Design-Entwicklung bei Mercedes – Die Rückkehr zur puristischen Form

Erinnern Sie sich? Noch in den 90er-Jahren kostete der sogenannte „Reiserechner“ beim Mercedes-Topmodell über eintausend Mark Aufpreis. In einer Zeit, in der viele BMW-Modelle längst umfangreiche Bordcomputer serienmäßig boten und Renaults elektronische Reisebegleiter über eine Sprachausgabe verfügten. Dafür wirkten die von Chefdesigner Bruno Sacco kreierten Produkte nicht nur bodenständig, sondern auch im besten Sinn einfach und elegant. Und sie strahlten dabei eine schier grenzenlose Solidität aus, was sie in ihren besten Zeiten ja auch waren.

Mercedes soll also mal konservativ gewesen sein? Jüngere Autofans werden das kaum glauben können, denn heute zeigt sich die Marke in Sachen Design ausgesprochen mutig. Auch und gerade im Vergleich zu den Wettbewerbern aus Bayern. Chefdesigner Gordon Wagener stützt sich bei der Weiterentwicklung der Produkte auf zahlreiche, weltweit verteilte Designzentren. In Sindelfingen wird dann gebündelt, was die Kreativspezialisten in Brasilien, China, Indien, Japan und den USA auf den Weg bringen.

Mit der Skulptur Aesthetics A gibt Mercedes eine Vorschau auf die neue Mercedes-Designgeneration, an deren Anfang der Nachfolger der A-Klasse stehen könnte

Viele Länder und Regionen, das heißt auch viele Kulturen. Autodesigner lassen sich nicht nur von der Natur inspirieren – was sich dann in Trends wie dem organischen Design widerspiegelt – sondern auch von Menschen, deren Alltag, Kleidung und Kunst. Gutes Design braucht dringend internationale Anregungen. Ob es nun teure italienische Riva-Boote sind, japanische Haifischflossen oder brasilianische Blumen: Es gibt viele Beispiele dafür, wie Linien und Elemente am und im Auto Dingen aus dem Alltag entlehnt sind – seien es Schlüssel, Tasten, Lichteinheiten oder auf den ersten Blick banal scheinende Funktionselemente wie zum Beispiel Lüftungsdüsen.

Einem möglichst breiten, multinationalen Publikum gerecht zu werden, ist übrigens gar nicht so einfach. Schließlich ist der aufstrebende S-Klasse-Kunde in China vielleicht gerade einmal Anfang dreißig, während Oberklasse-Fahrer in Europa selten unter fünfzig Jahre alt sind – beide stellen völlig unterschiedliche Ansprüche in Bereichen wie Entertainment oder Komfort.

Es soll ein flächenbezogenes und puristisches Design werden – die Zeit der Sicken sei vorbei, proklamiert Chefgestalter Wagener

Auch die Innenarchitektur moderner Luxusautos ist inzwischen denkbar vielschichtig, weil heutzutage Handwerkskunst und anspruchsvolles Infotainment immer weiter miteinander verschmelzen, was neue Herausforderungen mit sich bringt. Beide Felder unterliegen Trends, für das Mobiliar und die Oberflächen muss die Kreativabteilung daher Spezialisten wie Mode- und Textildesigner beschäftigen, um am Puls der Zeit zu sein. Diese wiederum haben sich mit den technischen Gegebenheiten auseinanderzusetzen, was eine Zusammenarbeit mit den entsprechenden Experten erforderlich macht und Schnittstellen erfordert, die es früher überhaupt nicht gab.

Was noch vor wenigen Jahren mechanische Anzeigen und überschaubare LCD-Displays richten konnten, übernimmt heute eine meist riesige Monitorfläche. Und hier steckt riesiges Potenzial für die Zukunft. Wie werden sich Innenräume verändern gerade im Hinblick auf die fortschreitende Autonomisierung? Insbesondere der Fahrer wird den Lebensraum Automobil künftig anders wahrnehmen, weil er sich weniger auf das Fahren konzentriert und sich mehr den übrigen Funktionalitäten des Autos widmen kann. Mit derartigen Zukunftsmodellen beschäftigen sich etwa die Mitarbeiter der fünf Mercedes „Advanced Designstudios“. Was vielleicht in zehn, zwanzig Jahren auf die Kunden zukommen könnte, zeigen verschiedene Studien. Da werden kurzerhand komplette Armaturen zu Anzeigeflächen, oder aber Projektionen in die Windschutzscheibe ergänzen den Informationsfluss und gehen weit über die Leistungen heutiger Head-up-Displays hinaus.

Bei Mercedes macht man sich natürlich auch viele Gedanken über das künftige Design des Innenraums

So gar nicht digital – zumindest nicht vollständig – verlaufen Teile des sogenannten Designprozesses. Zwar werden Entwürfe mit dem Rechner erzeugt, doch um das Modellieren von Tonmodellen kommt man am Ende immer noch nicht herum. Da sind regelrechte Künstler am Werk, die so virtuos mit dem Werkstoff umgehen können, dass am Ende mit Schabern und Spachteln ein präzises 1:1-Modell dessen entsteht, was die Gestalter vorher am Computer erzeugt haben – und zwar mit jedem so noch kleinen Detail. Dann betrachten die Experten das Ergebnis unter verschiedenen, simulierten Lichtverhältnissen und bessern bei Bedarf nach. Schließlich spielen Reflexionen eine bedeutende Rolle bei der Wirkung von Form und Farbe.

Aufregende Studien wie der Mercedes-Maybach 6 sollen einen Vorgeschmack geben, wie künftige Serienmodelle mal aussehen könnten

Da stellt sich die Frage, wie es um die Zukunft des Mercedes-Designs bestellt ist. Aufregende Studien wie F015 oder Vision Mercedes-Maybach 6 sollen ja auch immer einen Vorgeschmack geben, wie künftige Serienmodelle mal aussehen könnten. Mit der Skulptur Aesthetics A gibt Hersteller eine Vorschau auf die neue Mercedes-Designgeneration, an deren Anfang der Nachfolger der A-Klasse stehen könnte. Es soll ein flächenbezogenes und puristisches Design werden – die Zeit der Sicken sei vorbei, proklamiert Chefgestalter Wagener. Diese „glatte“ und „klare“ Stilrichtung wird bereits im jetzt startenden E-Klasse Coupé manifest. Doch auf das Endergebnis muss der Markenfan noch ein bis zwei Jahre warten. (Patrick Broich/SP-X)

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